Freitag, 22. Juli 2016

Weltweit ansteckend: Die Krankheit mangelnder Unterscheidungsfähigkeit

Menschen wie Dominosteine. Mit der Moral scheint es sich manchmal genauso zu verhalten wie mit der körperlichen Gesundheit. Gedanken können ansteckend sein. Das Verdenken auch (die "Verdanken"?).

Mit Moral meine ich natürlich die platonische, die sich auf Vernunft bezieht (nicht die so genannte "bürgerliche"). Und was vernünftig ist, muss auch schön und gut sein. Klingt nach einfacher Wahrheit. Ist es vielleicht auch.

Dabei schreibt man es gerne dem Populismus zu, "einfache Wahrheiten" zu verbreiten - vielleicht voreilig. Der Populismus setzt in der Regel seiner Kunst gewisse Vorurteile voraus. Diese können durchaus komplex sein und durch komplizierte Argumentation pseudo-begründet. Einfach muss die Wahrheitlichkeit (wie die Freiheitlichkeit von Freiheit, der Widersinn von Wahrheit) des Populismus also nicht unbedingt sein. Man kann an der Gehirnschmalz-Voraussetzung, es nachzuvollziehen, nicht erkennen, ob ein Denken vernünftig ist. Aber ein anderes "Symptom" hilft vielleicht, die ansteckende "Krankheit" zu diagnostizieren, die u.a. der moderne, globalisierte Terrorismus verbreitet. Für mich besonders auffällig: Die eingeschränkte oder fehlende Fähigkeit zu differenzieren - das Grundmerkmal des Extremismus


Differnzieren heißt Erkennen


Von kleinst auf lernen alle Kinder auf natürlichem Wege, Dinge zu unterscheiden. Wer die Dimensionen eines Objektes oder Raumes nicht differenzieren kann, kann das Objekt nicht erkennen, sich im Raum nicht orientieren. Aber aus irgendeinem Grund beginnen Menschen im Erwachsenenalter häufig, diese Fähigkeit wieder abzubauen - auch wenn sie völlig nüchtern sind. Es genügt ihnen zu sagen, dass Männer aus islamisierten Ländern Schwierigkeiten mit ihrer Sexualität haben oder das rothaarige Frauen oft Hexen sind; schon gelten ihnen alle Muslime als potenzielle Sexualstraftäter und alle Rothaarigen werden von Opus Dei überwacht (könnte ich mir vorstellen).


Keine einfache Wahrheit, aber einfache Lüge in der Türkei

Die Konflikte der Türkei sind nur auf den ersten Blick dem Machtspiel eines Diktators geschuldet. Wer warf hier den ersten Stein? Wenn man bedenkt, dass Erdogan einmal einer war, der selbst gegen Korruption und Unterdrückung kämpfte. Trug er nur die Maske des Demokraten und war deshalb überhaupt erst erfolgreich (und überlebend)? Oder steckte er sich mit jener Krankheit des Geistes an, die schon viele vor ihm befiel.

Wenn man die ersten Gefahren überstanden hat, wenn man an Stärke gewinnt, um sich nicht nur gegen Feinde verteidigen zu können, sondern sie zu besiegen und sich an ihnen zu rächen vermag, dann wird Mensch oft zum Spiegelbild seines Feindes. Erdogan bedient sich der selben Mittel wie jene Militärs, gegen die er einst reformierte. In diesem Kampf gibt es keine Guten. Wer auch immer gewinnt, die Moral - das Schöne, Gute, Vernünftige - hat schon verloren.

Wer früher Kritiker_in des korrupten Militärs war, hätte das gesamte Türkentum beleidigt. Wer heute Kritiker_in der korrupten Regierung ist, beleidige das gesamte Türkentum (und nicht erst seit dem letzten Pfusch-Putsch). In beiden Fällen mangelt die Unterscheidung von berechtigter Kritik und staatsfeindlichem Terrorismus. So seien schlicht alle, die gegen Erdogan sind, der Feind. "Auge um Auge und die ganze Welt wird blind."


Wohin herhebt sich Europas Zeigefinger?

Da erhebt das westliche Europa seinen Zeigefinger: Rechtsstaatlich sei etwas anderes. Das Prinzip dieser Rechtsstaatlichkeit gründet auf der philosophischen Moral, die ich meine. Ohne das Streben nach Wahrheit gibt es keine Gerechtigkeit. Und die Wahrheit ist: Wer die Schuld einzelner Verbrecher_innen auf Unschuldige überträgt; wer das Verbrechen einer Person nicht von seinen übrigen, legalen Tätigkeiten trennen kann, braucht sich nicht über Erdogan zu beklagen.

Die Moral ist von der Gerechtigkeit, also von der Rechtsstaatlichkeit, also von der Demokratie nicht zu trennen. Wenn junge Erdogan-Fans mit türkischer Identitätsverwirrtheit demonstrieren gehen, ist das ihr Recht. Wenn sie dabei randalieren und gefährliche Drohungen aussprechen, ist das nicht ihr Recht. Aber auch wenn die selben Personen, im selben Zeitraum sowohl legale wie auch illegale Handlungen setzen, muss man das eine vom anderen getrennt betrachten. Ein kaputter Stuhl bei Turkis kann nicht das Demonstrationsrecht einzelner sozialer- oder politischer Gruppen in Frage stellen, sondern lediglich das Verhalten einzelner Demonstranten. Ich bin froh, dass der neue Kanzler, Christian Kern, das, nach seinen Gesprächen mit der Islamischen Glaubensgemeinschaft Österreich, noch einmal klar stellte. Europas Zeigefinger sollte nicht in der Nase bohren, abe orientierungslos (undifferenziert) herumfuchteln.


Schrödingers Katze des Nationalismus

Frage mich allerdings, warum man nicht von den christlichen Kirchen Stellungsnahmen erwartet, wenn die Identitären mit Hitlergruß das christliche Abendland verteidigen wollen. Apropos: Die geistige Krankheit greift auch hier um sich. Denn wenn man das christliche Abendland verteidigen will, muss man es zunächst ausrufen. Das könnte man durchaus als Angriff auf unsere säkulare Republik betrachten. Ich fühle mich als Urösterreicher und Europäer ohne Bekenntnis jedenfalls von den Rechten entweder vereinnamt oder ausgeschlossen - als Schrödingers Katze des Nationalismus. An dem erkennt man übrigens gut, wie der religiöse Nationalismus z.B. des IS den religiösen Nationalismus gewisser Europäer_innen fördert. Sie werden zum Spiegelbild dessen, was sie fürchten. Die Terroisierten werden sich selbst zum Feind.


Am braunen Anfang steht das volle Töpfchen

Das Bollwerk gegen diese Krankheit können nicht die bereits Angesteckten stellen, sondern nur die Vernunft. Sie muss den Rechtsstaat beherrschen. Sie sollte die Regierung verpflichten.

Sobald einzelne Mitglieder gewisser Schubladen Verbrechen begehen, fordern Rechtspopulist_innen Maßnahmen nicht nur gegen die gesamte Schublade, sondern auch gegen die gesamte Kommode, zu der sie gehört. Die Krankheit zeigt sich also z.B. auch in der FPÖ. Man ignoriert das vernünftige Prinzip des Rechtsstaates; man steckt sich - in diesem Fall mit Absicht -  Differenzierungunsfähigkeit an. Für diese zweckmäßige "Impfung" mit Ignoranz schmeißt man sogar Parties.

Alle in einen Topf zu werfen, ist Extremismus, es steht am Anfang jeder Tyrannei. Es ist der anfängliche Gedanke der zählt und bleibt - unabhängig von seinem Ausgang - stets von gleicher Unart. Egal ob er von Erdogan oder Orban, Strache oder Farage, Stalin oder Hitler gedacht wird. Er steht im Widerspruch zu dem, was alle "westliche" oder "europäische Werte" nennen. Und ja, ich erkenne die Gleich(un)artigkeit des Gedankens, weil ich die Unterschiede seiner Wirkung sehe und nicht mit dem Ursprung an sich verwechsle.


Inshalla! Arsch hochkriegen!

Nur noch eines: Wenn Muslim_as "Allahu Akbar" rufen, kann das alles bedeuten, auch so viel wie "Maseltov", "Hip Hip Hurra", "We are the champions" oder "Herzlichen Glückwunsch". Man muss sich - liebe Medien - darauf nicht aufhängen, sondern differenzieren. Wird es von Massenmördern vor/nach der Tat ausgerufen? Oder von Demonstrant_innen? Oder von Fastenbrechenden, weil der Ramadan endlich vorbei ist?

Es haben auch alle europäischen Bürger_innen das Recht, eine Gegendemo bzw. eine Demo gegen Erdogan zu veranstalten. Natürlich wäre es schön, wenn die Muslimische Glaubensgemeinschaft Österreich sich zur Entdemokratisierung in der Türkei und zur angeblichen Erdoganisierung europäischer Moscheen gleich und immer wieder äußern würde. Aber wir aufrechten, europäischen Demokrat_innen müssen nicht auf sie warten. Wir dürfen selbst denken, sprechen und handeln. Lieber selber auf die Straße gehen und es besser machen, als immer nur über die anderen kritisieren, die den Arsch hochkriegen - warum oder wofür auch immer!



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