Montag, 14. Dezember 2015

Europa: Realitäten, Restln und Barrieren

In Europa kriselt's. Und wo nicht? Beim Flüchtlings-Test muss versagt werden. Denn der Restl-Humanismus in den Verfassungen Kerneuropas reicht auch nicht aus, um andere Probleme zu lösen. Und die Peripherie? Das British-Empire-Restl hat keine Verfassung im eigentlichen Sinn. Was die Ostblock-Restln haben, ist den dortigen Machtstrukturen sowieso wurscht. Internationale Abkommen werden von vielen ratifiziert, aber unterschiedlich interpretiert. Das Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten ist auch eines unterschiedlicher Realitäten. Wien ist typisch europäisch.

Ignoranz ist die erste Barriere


Ab 2016 ist Österreich (für Menschen mit Behinderung) barrierefrei – offziell. Müsste es sein. Öffentliche Bedienstete wissen's eh. „Sorry! Sind noch nicht so weit. Gehen's halt woanders schei... oder rollen Sie!“
Die Ignoranz jeweiliger „Verantwortungsträger“ bzw. Verantwortungsbehindeter ist seit jeher politisches Werkzeug. Leitet sich diesbezüglich nicht von Unwissenheit ab, sondern vom bewussten Ignorieren sozialer Gruppen, die man sich zu ignorieren leisten kann.

Im hochgelobten Architekturmischmasch „Kabelwerk“ in Wien gibt es ein zentrales Lokal mit Rollstuhlklo im Keller. Ohne Aufzug.

Als dessen persönlicher Assistent begleitete ich Rollstuhlfahrer und b-Checker Martin Habacher zum Tag der offenen Tür des Menschenrechtsbüros der Stadt Wien. Keine Rollstuhltoilette. Die UN-Menschenrechtskonvention für Menschen mit Behinderung wurde 2008 von Österreich ratifiziert. Man weiß es eh. Sorry! Aber besser ein zu kleines Büro für die restlichen Menschenrechte als gar keines, oder?

Vor dem Büro protestierten Tibeter_innen, weil sich ihre Landsleute selbstverbrennen und niemand darüber berichte. Das klingt so zynisch wie es ist.

In Sichtweite liegt das Tyrann-Abdullah-Zentrum, in dem islamistische Fundis auf religiöse Weltoffenheit machen. Frauen dürfen in Saudi-Arabien jetzt wählen, immerhin, in einer absolutistischen Monarchie. Gratuliere!

Am Heimweg, U-Bahnsteig, Infoscreen: Jener Mitarbeiter des EU-Agenturbüros für Grundrechte in Wien, der angeblich gefeuert wurde, weil er sich gegen Mobbing und Rassismus gewehrt hätte, hat geklagt. Das Gericht gab ihm Recht. Rassistische Grundrechtsexpert_innen? Was ist bloß los in den Wiener Büros?

Realitäten

So viele unterschiedliche Realitäten, die nicht ganz zusammenpassen: Offizielle Agenda und tatsächliches Handeln. So viel Schein in Wien allein. Aber wo bleibt das Sein? Wie werden Grundrechte zu Realität? Hier und überhaupt? Und gibt es eine Relität, auf die man sich einigen könnte?

Es gibt die Realität der Reichen. Die chice Elite bzw. Eh-lite stakst durch die Nobelbezirke zum Wohltätigkeits-Bio-Punsch. Die Redekunst ist ihre Berufung. Und über umgesetzte Rechte redet man wenig. Traum der Sophisten. Albtraum der Platoniker_innen.
Sie wissen, dass allgemeine Menschenrechte niemals Realität werden können, solange sich ihnen nicht auch die globale Finanz- und Wirtschaftsmacht unterwirft. Es bleibt beim diplomatischen Antrinken gegen all die heißen Steine im Bewusstsein, die man nur betröpfeln kann.

Es gibt die Realität der Armen. Sie wählen Frankreichs falsche Blondinen. Die profitierten von den Anschlägen in Paris. Terrorprofiteurinnen. Auch woanders wird  „Politik“ gewählt, die aus Angstmache, also verbalem Terrorismus besteht.
Diese gaukelt den „kleinen Leuten“ vor, all deren Probleme zu lösen, wenn nur nicht so viele Flüchtlinge das Mittelmeer überleben würden. Und die Probleme, die man nicht durch weniger „Fremdes“ lösen könnte, die gebe es gar nicht.

Es gibt auch die Realität dazwischen. Das globalisierte Wirtschaftssystem teilt immer mehr Menschen in Gruppen ein, die man sich zu ignorieren leisten kann. Menschen-Restln. Sind schon ein paar Milliarden.
Private infiltrieren Gesetzgebung und Verträge der EU. Privatbanken verdienen allein damit ein Vermögen: Ihre Lobbyist_innen verboten der EZB den Mitgliedsstaaten deren eigene Euros auszuzahlen. Alles rennt deshalb über Private. Wo-woar-mei-Leistung-Grinsen über die Zinsen. Weniger für den Staat, mehr fürs Privat-Primat.

Wenn blinde Wut nach hinten losgeht

Andere Menschen hackeln wirklich, 60 Wochenstunden und mehr. Müssen zum Teil dennoch um Sozialhilfe ansuchen. Dann auch noch jenen Banken Gebühren für computergesteuerte „Dienstleistungen“ zahlen oder einfach nur, weil sie der Bank ihr real schrumpfendes Gehalt borgen dürfen. Macht wütend.
Die Wütenden haben offenbar keine Zeit sich richtig zu informieren. Dann geht ihre Empörung in die falsche Richtung, verhindert z.B ein EU-Gesetz gegen Korruption bei Privatisierungen.
Nationale Schwindler_innen bläuten den Wütenden vor einiger Zeit ein, dass es sich dabei um einen Plan zur (Wasser-)Privatisierung handle. In manchen Gegenden (auch Österreichs) verteidigte man selbst dort „unser“ Leitungswasser, wo deren Versorgung längst privatisiert war. War offenbar nicht aufgefallen. Die EU-skeptischen Regionalpolitiker_innen spielten dennoch die heroischen Landesverteidiger_innen.  In der realen Realität verhinderte man jedoch Korruptions-Bekämpfung. Deshalb wurde der Protest auch so schnell und dankbar erhört.

Grundlegende und vereinigende Wahrheitsfindung

Es ist ein Europa unterschiedlicher Realitäten. Die Eh-lite weiß, handelt aber nicht. Reden ist Silber, Gold oder Gefälligkeiten, Schweigen auch, wenn man's richtig macht. Handeln hingegen ist riskant. Auch das zeigt die Flüchtlingsprüfung auf.
Die Masse will handeln, weiß aber nicht wie und fällt deshalb auf die dümmsten Scharlatane mit den billigsten „Lösungen“ herrein. Die Mittelschicht schrumpft und zerstreut sich in alle Richtungen. Bei allem Internetzbetreiben: Wer will schon Zeitung lesen, wenn Katzenbilder einem die Welt erklären und die Pseudozeitung in der U-Bahn gratis ist?

Europa bräuchte eine Realität, auf die wir uns alle einigen, durch die wir uns wieder vereinigen könnten. Früher bot der Humanismus, auf dem auch die Menschenrechte beruhen, eine solche menschenwürdige Wirklichkeit. Zumindest dessen Rahmenkonzept: Was ist der Mensch? Was will er? Was braucht er? Vielleicht wäre das ein Ansatz?
Möglicherweise sollten jene mit dem Handlungsunfähigen mit dem Wissen, jenen unwissenden Handlungswütenden erklären was Sache ist? All die Realitäten transparent machen? Denn die positive Veränderung wird nicht bei den Reichen beginnen. Die Masse bringt's.

Vielleicht wäre auch die Umsetzung unserer bereits bestehenden „Werte“, die wir angeblich alle gerade verteidigen müssten, ein positiver Anfang? Dabei sollten wir zunächst das Naheliegende und Grundlegende fordern: Ein rollstuhlgerechtes Häusl in allen öffentlichen Einrichtungen. Pinkeln ist auch ein Menschenrecht. Auf diese Wahrheit können wir uns gewiss alle einigen.

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