Dienstag, 13. Januar 2015

Je suis humaniste: Erwachen einer Zivilgesellschaft

Gesunder Pathos einer Zivilgesellschaft

Nach den feigen Morden in der Redaktion von Charlie Hebdo und bei daraufhin folgenden Geiselnahmen, gingen Millionen in Frankreich Trauer wegen und Widerstand gegen (islamistischen) Terrorismus demonstrieren. In ganz Europa, auf  der ganzen Welt fanden Solidaritätskundgebungen für „Charlie“ und Frankreich statt.
Darüber muss man nicht lange nachdenken. Diese Symbolkraft, der überall wehende Pathos tut uns allen gut. Belebend fühlen wir dieses wiedererwachte kollektive Bewusstsein: Es geschah mitten in Europa, betrifft die Freiheit von uns allen. Plötzlich sind wir wachgerüttelt.

Plötzlich ist Paris mehr als die Hauptstadt Frankreichs, plötzlich ist es allen Europäer_innen unmittelbare Nachbarschaft. Noch nie fühlte sich der Place de la République so nahe an.

Was passiert hier?
 
Und seit wann kümmern sich die verwöhnten Europäer_innen um IHRE Pressefreiheit, um IHR Recht auf freie Meinungsäußerung, um ihre Rechte im Allgemeinen? Es versammelten sich sogar 12 000 in Wien. So etwas passiert hierzulande höchstens, wenn Beamt_innen ihre Gehälter gefährdet wähnen.
Und die dort aufgereihten Berufsspitzenpolitker_innen hielten's gemeinsam z'amm – das professionelle Mundwerk, ließen Bessere sprechen. Was vernünftig war. Vernünftig! Was passiert hier?

Und was passierte davor?

Immer noch ziemlich ungerührt blickt ein Großteil von uns dem TTIP entgegen, auch wenn... oder gerade weil Billigzeitungen mit chlordesinfiziertem Geflügel vom eigentlichen Problem ablenken. Meinungsfreiheit geht mit dem Recht auf Information einher. Aber Transparenz bei den Freihandels-Verhandlungen zwischen EU und USA (und Kanada) gibt es nicht.
Auch erträgt man großmütig, dass dieser so genannte „Boulevard“ die plötzlich wieder so wichtige Pressefreiheit regelmäßig missbraucht, in dem er Unwahrheiten verbreitet, die seinen gewissen Geldgeber_innen aus Politik und Wirtschaft nützen. Das geschieht in ganz Europa.
 
Auch waren die "westlichen" Demokratien, allen voran die ganz westlichen, bisher bereit, sehr viel von ihrer Freiheit aufzugeben, gerade wenn es dem "Krieg gegen Terror" angeblich dienen sollte. Diesem fielen auch in Europa schon früher zahlreich Menschen zum Opfer, ohne eine Regung der Zivilbevölkerung in dem Ausmaß zu provozieren wie sie zur Zeit stattfindet.
Viele gingen europaweit jedenfalls nicht demonstrieren, als der britische Geheimdienst einfach beim Guardian hereinspazierte, um Festplattten mit Snowden-Informationen zu löschen.

Es geht um große Gefühle

Aber das war vor den Anschlägen von Paris. Jetzt sieht alles anders aus. Ob der Zeit-Herausgeber sich dieser Tage getraut hätte, die Kabarett- und Satireshow Die Anstalt zu verklagen, weil diese 8 statt nur 7 Lobbyverbindungen der Zeitung aufzeigten (siehe hier)? Wahrscheinlich schon, bleibt auch sein Recht. Heute bekommt der Fall allerdings einen noch unsympathischeren Beigeschmack.
 
Es geht um große Gefühle, zum Beispiel das große Gefühl, das uns sagt: Die Prinzipien der Aufklärung und des Humanismus sind immer noch wichtig. Wir dürfen uns wieder trauen, zu ihnen zu stehen. Und wir stellen fest, dass es uns kollektiv gut tut.
Charlie Hebdo war irgendwann allen zu viel Satire, irgendwann allen Polikter_innen Feind. Heute ist er vor allem letzteren wieder Freund (man könnte nun Böses unterstellen... aber ich möchte nicht zu viel Satire riskieren).

Überraschende Schmähstille der Antimuslime

Wir lieben auch all die anderen Narren wieder, die uns den Thron mit Nadeln spiken, die kreativen Reaktionen von Karikaturist_innen aus aller Welt. Wir wissen nun um ihren für uns Wert bescheid.
In der Türkei und Ägypten nützen Journalist_innen und Satiriker_innen die nun freiheitsfreundliche Stimmung, um auf ihre schwierige Situaion und auch ihre Wichtigkeit aufmerksam zu machen.

In Frankreich fehlte die Front National bei den Trauerkundgebungen. Antimuslimische Äußerungen blieben in den großen Medien aus. Pegida in Deutschland erscheint schmähstad, nachdem, trotz der islamistisch ersponnenen Attentate, 35 000 in Dresden gegen die Islamfeinde demonstrierten. Zu Recht: Die Beteiligung von Muslimen am Kampf gegen die Terroristen ist nicht zu bestreiten. Der Moslem Lassana Bathily wird als Held gefeiert. In your face, Rechtspopulismus!

Der schlafende Humanismus hat sich bewegt


In diesen Tagen regt sich nicht die Angst einer terrorisierten Gesesellschaft. In unseren Tagen regt sich die aufgeklärte Zivilgesellschaft zum Widerstand gegen alle ihre Feinde. Es geht kollektiv-bewusst nicht nur gegen die islamistischen, bereits toten Mörder. Es geht auch gegen deren unsinnsverwandte Islamfeinde, gegen Antihumanist_innen. Europa geht wieder.

Es ist vielleicht naiv eine zivilisatorische Aufbruchsstimmung zu riechen. Wir müssen nun an allen Ecken und Enden darauf achten, dass gewisse Staatschefitäten die Situation – trotz ihres Bekenntnisses zu europäischen Werten – nicht ausnützen, Intransparenz, Militarisierung, Überwachungsapparat und Zensur wieder auszubauen.

Bin aber der Meinung: Wenn schon eine positive Welle – zudem nach so einem schrecklichen Attentat – durch Europa schwappt, sollten wir sie surfen. Und ich glaube, wir sind wenigstens ein Stück weit aufgewacht. Wir können nur hoffen, wir bleiben es.

Je suis Facu Díaz

Nachtrag: Ohne Charlie Hebdo hätte es dieser Fall gewiss nicht bis in unsere Zeitungen geschafft. Die „Charlie“ Rajoy nahestehende Gruppe „Würde und Gerechtigkeit“ (deren Selbstbenennung bereits an Ostblock-Faschismus erinnert) verklagt einen spanischen Satiriker.

 

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