Dienstag, 24. September 2013

Wiener Linien: Ein unheimliches Sittenbild


Mittlerweile frage ich mich, ob die neueste Kampagne der Ayatollah Sittenlinen Wiens (vormals Wiener Linien), die sich „Rücksicht hat Vorrang“ nennt, Schuld an den aktuellen Fahrt-Verzögerungen ist. Und ob die zunehmende Polizeipräsenz in gewissen Stationen, die offenbar darauf abzielt, einzelne, männliche Kapuzenpulliträger anzuhalten und um deren Papiere zu bitten, etwas damit zu tun hat?

Will man uns erpressen? Benimmregeln einhalten oder die Öffis fahren nicht pünktlich! Will man uns einschüchtern? Seht her! Überall Uniformierte mit Barett, die euch genau beobachten und das auf Kosten eurer Steuergelder! Und ihr könnt nichts dagegen machen! „Muahahahaha!“, so ein Mitarbeiter der Wiener Sittenwacht, der anonym bleiben möchte.

Wenigstens irgendeine Bildungsinitiative

Es kann natürlich auch sein, dass sowohl die verstärkten Polizeikontrollen, als auch die Fahrgäste-Erhziehungs-Initiative etwas mit der nahenden Eröffnung der Streckenverlängerung der U2 zu tun hat. Schließlich kennen die wilden Stämme des äußeren 22. Bezirks dieses Verkehrsmittel nur aus ihren Sagen und Legenden. Man möchte daher einer möglichen Panik unter den Einheimischen und ihrem Mangel an Etikette vorbeugen. Warum man aber die Kampagne wieder beenden will, sobald dieses Terra Incognita erschlossen wird, bleibt daher ein Rätsel.

Laute Musik gegen Vormundsbeschallung

Einzig erwiesen scheint: In den Augen der Betreiber_innen sind wir doch alle Kinder. Zuerst will man uns vorschreiben, wem wir unser Taschengeld herschnorren dürfen; dann gemahnt man pausenlos über Lautsprecher, was dem geistesgesunden Menschen selbstverständlich ist. Kein Wunder also, dass Fahrgäste laute Musik hören. Mir sind Handyklingeltöne eine Erholung, wenn ansonsten zum tausendsten Mal erklärt wird, dass ich beim Ausseigen aufpassen solle. Jedes Kind, das einmal mit der U-Bahn fuhr, weiß, dass es da einen Spalt gibt!

Auch die Türen tönen unangenehm und bedrohlich rot blinkend zum gräslichst zu installierenden Gepiepse, kurz bevor sie gnadenlos zuschnappen. Und wer es nicht schafft, rechtzeitig ins Innere zu eilen, verliert womöglich ein Körperteil. Ehe die U-Bahn ankommt, muss sie schon wieder weg sein. Alles für die Pünktlichkeit, alles für ihren Fahrkomfort!

Zu dieser Brave New Subwayworld – das sei noch beschrieben, bevor mich Schwarzkappler in Zivil aufgreifen und auf die Gleise werfen – gehören übrigens irreführende, weil nicht als Werbung deklarierte, Durchsagen. Sie fordern einen mir unbekannten Manfred Müller auf, seine liegengelassene Gratiszeitung abzuholen. Die Gratiszeitung!*

Und was bringts? Und...

...Überhaupt:
Die U-Bahnen fallen trotzdem immer wieder aus. In den Fahrstühlen riecht es nach Urin. Geraucht wird vorm Stationseingang, im Stationseingang, halb und manchmal auch gänzlich in den Stationen. Natürlich sind die allgegenwärtigen Ordnungshüter_innen in solchen Fällen nie gegenwärtig. Auch die Lautsprecherstimme der Stationsaufsicht schweigt dazu, die sich jedoch jederzeit melden kann, um spielenden Schulkindern mit den Sicherheitskräften zu drohen.

Überwachungskameras hängen überall. Dennoch im letzten Jahr, in der U6 eine junge Frau vergewaltigt. Wer darüber schockiert ist, sollte sich aber beruhigen: Als Hauptproblem wurde Hundespeichel erkannt, sowie Personen , denen der Salat aus dem Sandwich fällt. Auch gegen dümmliche Gesichtsausdrücke wollen die neuen Werbevideos offenbar Stimmung machen, obwohl Plakate gewisser Politker immer noch in den Stationen hängen.

Die Regeln werden meist von jenen gebrochen, denen die Regel auch dann egal wären, wenn sie diese kennen und begreifen würden. Die einzigen, die nicht von ihrem Sitzplatz aufstehen, wenn eine gebrechliche Person diesen brauchen könnte, sind vereinzelte Mitfahrer_innen, die so zugedröhnt sind, dass sie auch nicht mitbekommen, wann und ob sie überhaupt aussteigen müssten. Will man sämtliche Kund_innen nun mit diesen gleichsetzen?

Big Brother Linien Wien gründen Parallelgesellschaft
Seltene Kebabs oder Leberkassemmeln stören vermutlich nur Personen auf Diät; Musik aus fremden Kopfhörern gewiss nur jene, denen auch ansonsten fade im Schädel ist. Jetzt will man auch noch das Küssen verbieten und unter Geldstrafe stellen, und zwar ohne gesetzliche Grundlage oder Vermerk in der Hausordnung. Die mobilen Sittenwächter_innen wären geschult und wüssten was sie zu tun hätten, so die Warnung, die man mir als Beruhigung verkaufen möchte (wenigstens haben sie ein neues Beschäftigungsprogramm – frage mich, was das wieder kostet).

Die Wiener Sittenwacht scheint also machen zu können, was sie will, um mich, den zahlenden Fahrgast, vor Belästigung durch andere Fahrgäste zu schützen. Ich wurde zwar noch nie von Mitkund_innen in meinem Fahrgenuss gestört, aber Big Brothers neuer Sittenfahrspaß geht mir dafür professionell am Oarsch. Was allerdings im Fahrpreis inkludiert ist.

Öffentliche oder private Fragen

Warum wartet die U-Bahn immer so lange in einer gewissen Station, bis ich, aus dem verbindenden Bus rennend und die Stufen hinaufstürmend, sie beinahe erreicht habe, ehe sie mir vor der Nase davon fährt? Warum werden gesunde Menschen mit zwei tauglichen Beinen nicht systematisch zugetextet, bis sie aufhören, Kinderwagenlenker_innen und Rollstuhlfahrer_innen die Aufzüge zu blockieren (Auch die Rolltreppe unterstützt Unsportlichkeit und zu Fuß ist man fast immer schneller). Traut man den Kund_innen hierbei etwa Eigenverantwortung zu?

*Und das einzige, das im Zusammenhang mit Gratiszeitungen Sinn macht, ist das Second-Hand-Sharing unter den Fahrgästen. Warum will man es durch die neue Kampagne unterbinden? Ein Bild des Grauens bot sich mir, als ich sah, wie Exemplare dieser U-Bahn-Zeitschrift, kaum aus den Spendern entnommen, sich zehn Meter weiter und druckfrisch über dem Mistkübel auftürmten. Es graute mir nicht, weil's schade um die Lektüre wäre, aber aus ökologischer Sicht durchaus.

Warum unternehmen die Brave New Linien also nichts gegen ihre hausinterne Altpapierproduktion? Eine rhethorische Frage (Freunderlwirtschaft). Warum verkaufen die ehemaligen Linien Wiens ihre Infrastruktur an ein ausländisches Untenehmen (das überraschenderweise nicht im Iran sitzt), um sie von diesem wieder zurück zu leasen? Müssten die Linien sich nicht entscheiden, ob sie öffentlich oder privat sind? Und werde ich aufgrund dieses Artikels mit einem Fahrverbot belegt werden? Es würde mich bei diesem Verein jedenfalls nicht mehr wundern.

Nachspiel?!

Kaum hatte ich diese Schmähschrift verfasst, schien sich die akute Situation in den U-Bahnen wieder zu beruhigen. Keine Polizist_innen waren mehr zu sehen, nicht einmal die regulären Ordnungshüter_innen. Auch schien man die üblichen Durchsagen nur noch so sparsam einzusetzen, dass sie im allgemeinen, akkustischen Trubel untergingen.

Dabei hatte ich diesen Text noch nicht einmal angeleint. Die haben bereits Zugriff auf meine PC! Oder ich bin – auch in Bezug auf das übrige Obrige – völlig paranoid. Was kein Wunder wäre, bei solch unheimlichem Sittenbild, das die Wiener Öffis collagieren.

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