Mittlerweile frage ich mich, ob die neueste
Kampagne der Ayatollah Sittenlinen Wiens (vormals Wiener
Linien), die sich „Rücksicht hat Vorrang“ nennt, Schuld an
den aktuellen Fahrt-Verzögerungen ist. Und ob die zunehmende
Polizeipräsenz in gewissen Stationen, die offenbar darauf abzielt,
einzelne, männliche Kapuzenpulliträger anzuhalten und um deren
Papiere zu bitten, etwas damit zu tun hat?
Will man uns
erpressen? Benimmregeln einhalten oder die Öffis fahren nicht
pünktlich! Will man uns einschüchtern? Seht her! Überall
Uniformierte mit Barett, die euch genau beobachten und das auf Kosten
eurer Steuergelder! Und ihr könnt nichts dagegen machen!
„Muahahahaha!“, so ein Mitarbeiter der Wiener Sittenwacht, der
anonym bleiben möchte.
Wenigstens irgendeine
Bildungsinitiative
Es kann natürlich auch sein, dass
sowohl die verstärkten Polizeikontrollen, als auch die
Fahrgäste-Erhziehungs-Initiative etwas mit der nahenden Eröffnung
der Streckenverlängerung der U2 zu tun hat. Schließlich kennen die
wilden Stämme des äußeren 22. Bezirks dieses Verkehrsmittel nur
aus ihren Sagen und Legenden. Man möchte daher einer möglichen
Panik unter den Einheimischen und ihrem Mangel an Etikette vorbeugen.
Warum man aber die Kampagne wieder beenden will, sobald dieses Terra
Incognita erschlossen wird, bleibt daher ein Rätsel.
Laute
Musik gegen Vormundsbeschallung
Einzig erwiesen scheint:
In den Augen der Betreiber_innen sind wir doch alle Kinder. Zuerst
will man uns vorschreiben, wem wir unser Taschengeld herschnorren
dürfen; dann gemahnt man pausenlos über Lautsprecher, was dem
geistesgesunden Menschen selbstverständlich ist. Kein Wunder also,
dass Fahrgäste laute Musik hören. Mir sind Handyklingeltöne eine
Erholung, wenn ansonsten zum tausendsten Mal erklärt wird, dass ich
beim Ausseigen aufpassen solle. Jedes Kind, das einmal mit der U-Bahn
fuhr, weiß, dass es da einen Spalt gibt!
Auch die Türen
tönen unangenehm und bedrohlich rot blinkend zum gräslichst zu
installierenden Gepiepse, kurz bevor sie gnadenlos zuschnappen. Und
wer es nicht schafft, rechtzeitig ins Innere zu eilen, verliert
womöglich ein Körperteil. Ehe die U-Bahn ankommt, muss sie schon
wieder weg sein. Alles für die Pünktlichkeit, alles für ihren
Fahrkomfort!
Zu dieser
Brave New Subwayworld – das
sei noch beschrieben, bevor mich Schwarzkappler in Zivil aufgreifen
und auf die Gleise werfen – gehören übrigens irreführende, weil
nicht als Werbung deklarierte, Durchsagen. Sie fordern einen mir
unbekannten Manfred Müller auf, seine liegengelassene Gratiszeitung
abzuholen. Die Gratiszeitung!*
Und was bringts?
Und...
...Überhaupt: Die U-Bahnen fallen trotzdem immer
wieder aus. In den Fahrstühlen riecht es nach Urin. Geraucht wird
vorm Stationseingang, im Stationseingang, halb und manchmal auch
gänzlich in den Stationen. Natürlich sind die allgegenwärtigen
Ordnungshüter_innen in solchen Fällen nie gegenwärtig. Auch die
Lautsprecherstimme der Stationsaufsicht schweigt dazu, die sich
jedoch jederzeit melden kann, um spielenden Schulkindern mit den
Sicherheitskräften zu drohen.
Überwachungskameras hängen
überall. Dennoch im letzten Jahr, in der U6 eine junge Frau
vergewaltigt. Wer darüber schockiert ist, sollte sich aber
beruhigen: Als Hauptproblem wurde Hundespeichel erkannt, sowie
Personen , denen der Salat aus dem Sandwich fällt. Auch gegen
dümmliche Gesichtsausdrücke wollen die neuen Werbevideos offenbar
Stimmung machen, obwohl Plakate gewisser Politker immer noch in den
Stationen hängen.
Die Regeln werden meist von jenen
gebrochen, denen die Regel auch dann egal wären, wenn sie diese
kennen und begreifen würden. Die einzigen, die nicht von ihrem
Sitzplatz aufstehen, wenn eine gebrechliche Person diesen brauchen
könnte, sind vereinzelte Mitfahrer_innen, die so zugedröhnt sind,
dass sie auch nicht mitbekommen, wann und ob sie überhaupt
aussteigen müssten. Will man sämtliche Kund_innen nun mit diesen
gleichsetzen?
Big Brother Linien Wien gründen
Parallelgesellschaft
Seltene Kebabs oder Leberkassemmeln
stören vermutlich nur Personen auf Diät; Musik aus fremden
Kopfhörern gewiss nur jene, denen auch ansonsten fade im Schädel
ist. Jetzt will man auch noch das Küssen verbieten und unter
Geldstrafe stellen, und zwar ohne gesetzliche Grundlage oder Vermerk
in der Hausordnung. Die mobilen Sittenwächter_innen wären geschult
und wüssten was sie zu tun hätten, so die Warnung, die man mir als
Beruhigung verkaufen möchte (wenigstens haben sie ein neues
Beschäftigungsprogramm – frage mich, was das wieder kostet).
Die Wiener Sittenwacht scheint also machen zu können, was sie
will, um mich, den zahlenden Fahrgast, vor Belästigung durch andere
Fahrgäste zu schützen. Ich wurde zwar noch nie von Mitkund_innen in
meinem Fahrgenuss gestört, aber Big Brothers neuer Sittenfahrspaß
geht mir dafür professionell am Oarsch. Was allerdings im Fahrpreis
inkludiert ist.
Öffentliche oder private Fragen
Warum
wartet die U-Bahn immer so lange in einer gewissen Station, bis ich,
aus dem verbindenden Bus rennend und die Stufen hinaufstürmend, sie
beinahe erreicht habe, ehe sie mir vor der Nase davon fährt? Warum
werden gesunde Menschen mit zwei tauglichen Beinen nicht systematisch
zugetextet, bis sie aufhören, Kinderwagenlenker_innen und
Rollstuhlfahrer_innen die Aufzüge zu blockieren (Auch die Rolltreppe
unterstützt Unsportlichkeit und zu Fuß ist man fast immer
schneller). Traut man den Kund_innen hierbei etwa Eigenverantwortung
zu?
*Und das einzige, das
im Zusammenhang mit Gratiszeitungen Sinn macht, ist das
Second-Hand-Sharing unter den Fahrgästen. Warum will man es durch
die neue Kampagne unterbinden? Ein Bild des Grauens bot sich mir, als
ich sah, wie Exemplare dieser U-Bahn-Zeitschrift, kaum aus den
Spendern entnommen, sich zehn Meter weiter und druckfrisch über dem
Mistkübel auftürmten. Es graute mir nicht, weil's schade um die
Lektüre wäre, aber aus ökologischer Sicht durchaus.
Warum
unternehmen die Brave New Linien also nichts gegen ihre hausinterne
Altpapierproduktion? Eine rhethorische Frage (Freunderlwirtschaft).
Warum verkaufen die ehemaligen Linien Wiens ihre Infrastruktur an ein
ausländisches Untenehmen (das überraschenderweise nicht im Iran
sitzt), um sie von diesem wieder zurück zu leasen? Müssten die
Linien sich nicht entscheiden, ob sie öffentlich oder privat sind?
Und werde ich aufgrund dieses Artikels mit einem Fahrverbot belegt
werden? Es würde mich bei diesem Verein jedenfalls nicht mehr
wundern.
Nachspiel?!
Kaum
hatte ich diese Schmähschrift verfasst, schien sich die akute
Situation in den U-Bahnen wieder zu beruhigen. Keine Polizist_innen
waren mehr zu sehen, nicht einmal die regulären Ordnungshüter_innen.
Auch schien man die üblichen Durchsagen nur noch so sparsam
einzusetzen, dass sie im allgemeinen, akkustischen Trubel
untergingen.
Dabei hatte ich diesen Text noch nicht einmal
angeleint. Die haben bereits Zugriff auf meine PC! Oder ich bin –
auch in Bezug auf das übrige Obrige – völlig paranoid. Was kein
Wunder wäre, bei solch unheimlichem Sittenbild, das die Wiener Öffis
collagieren.