Sonntag, 27. März 2011

Salzburg, März 2011, Teil I

Nach der Dämmerungsfahrt landete ich im Hafen, am südlichen Arm dieser Stadt, wo sich kindheitsalte und moderne Urbanität wie Wurzeln ins moorige Erdreich des ländlichen Landschaftsschutzgebietes schlagen. Dort verweilte ich, weil die Kränklichkeit mich schwächte, zugleich erzürnte und verzweifeln ließ, über die Unpassendheit ihres Ausbruchs; zu schwach, mich ihn Wien zurück zu halten, aber stark genug, um die Bereitschaft meines Körpers entscheidend zu hindern, dieses Land im Frühling zu durchwandern.
Passend also doch – und bestimmt verbirgt sich dahinter eine Lektion, die es zu lernen gilt, vermutlich greifbarer sogar, als das mystische Wirken dieser Hafengegend meines Gneis, auf mein Wesen, von Kindheit an.
Heute aber lernte ich zu akzeptieren, meine Wut, meine Endtäuschung, meine Müdigkeit, das ganze Konglomerat dieser Gefühle, dicht und echt wie das Gestein, deren Quellen ferner liegen mögen, als ihre dunklen Ströme durch diesen sonnigen Tag. Es ging nicht anders.

Wen der Regen schon durchnässt hat, bis auf die Haut seiner Seele, der braucht nicht mehr den Schutz des Blätterdachs zu suchen. Aber Akzeptanz scheint mehrere Qualitäten zu haben. Meine war wohl jene des Aufgebens; den Versuch zu beenden, mir meine Lage besser oder brauchbarer zu grübeln.
Ich hasste meine Ausweglosigkeit beim zeitgleichen Frontalzusammenstoß drängender und dröhnender Gedanken, die aus diesem feuchten Urgrund meiner Jugend empor stiegen, stetig, wie ihr Angesicht in beinahe allem das schon da war, dazu kam oder – in dieser Realität –nie existierte. Danach ging ich spazieren.

Ich fotografierte die rostenden Details des Städtischen: Müllbehälter aller Art, bemalt, verbeult, angekettet, an jungen Bäumen und offenen Feldern; Holz von Menschenhand geformt oder in den Formungen von Menschenhand; unter der Weite des blauen Himmels, vor den Bergen, die im Raume fern, dem Blick aber so nahe sind; die alte Stauanlage des Almkanals im neuen Lack, vor der neuen Offenheit des Ufers, wo der Maschendrahtzaun fiel und mit ihm die Sträucher und Bäumchen, die an ihm und durch ihn (hindurch) gewachsen waren; und meine Blicke fielen, wie immer schon und entdeckten manches alte erneut, manches aber gewiss neu.
Ich habe einzelne, hölzerne Strommasten gerne, vor allem solche, an denen etwas zusätzlich befestigt ist, das an anderen fehlt, ob zur seiner Technologie gehörend oder als Fremdkörper, fotografierte diesmal aber keinen.

Licht fiel tief auf kalkweiße Hausmauern, Stahlbeton, aufs Grün des Efeus oder Wilden Weins und was sonst noch darauf wächst; durch die Scheiben eines Lieferwagens, auf die standardisierte Armatur aus dunkelgrauem Kunststoff, auf das gewöhnliche Lenkrad, das meinen Blick so interessierte; auf das gebeizte, dichtbraune Holz alter Schränke, den samtenen Glanz, ihre gedrechselten, geschnitzten Formen diversen Mobiliars; Holzbalken; die nicht weniger alte, nun kräftig bunte Pendeluhr, auf die es schräg einfällt, teils durch die großen, unbedeckten Scheiben, teils durch die Balken der Rollo, in den Raum, mit dem großen, massiven Jogeltisch, dem Zentrum der Familie.
Dies Licht bringt das Moos auf den flachen Dächern zum goldgelben Leuchten, so dass man nicht für möglich hält, dass es sich um grünes Moos handelt. Es fällt auf die Moorwiesen und ihre Birkenhaine, wo alles noch so riecht, wie an den Tagen, als dort noch wilde Prärie lag, durch die Cowboy und Indianer streiften. Es riecht nach Furcht und Fantasie.

Beim Vorbeifahren, beim Ausweichen vor anderen Fahrzeugen, auf dem schmalen, symmetrisch kurvigen Sternhofweg, wendete eine Frau den Kopf, aus ihrem schicken Lieferwagen-Verschnitt, nach mir, öfter dann, als ich zurück blickte, ohne – im Gegensatz zu ihr – auf etwas anderes achten zu müssen.
Ich stand auf der Wiese, in gutem Abstand. Was mochte sie in mir gesehen haben? Einem Mann auf einer Wiese, mit grünem Rucksack, Kamera auf dem Bauch, Haube und Schal überm karierten Hemd – nicht nahe genug, für die Details des Gesichtes, im Gegensatz zu anderen SalzburgerInnen, die mir begegnet waren.
Ich weiß, dass ich hier daheim bin oder dass ich wenigstens von hier stamme, denn die Leute schauen in meinem Salzburg genauso blöde aus sich heraus, wie ich glaube dreinzuschauen, wie ich mich manches Mal fühle – vor allem wenn ich über diese Wege wandle.

In Wien fällt es mir leicht, dem Geschaue zu begegnen, ich glaube auch, es dort besser deuten zu können. Auch blödes Geschaue hat unterschiedliche Qualitäten. In Wien erscheint es mir, wie von Haus aus, aus menschlicher Natürlichkeit zu fallen – egal welcher geografischen oder kulturellen Herkunft – meist im verständlichen Einklang mit Ort und Zeit des großstädtischen Lebens.
In Salzburg hingegen wirkt es unnatürlich auf mich, widerspiegelnd vermutlich das für die Schauenden Unnatürliche, das sie sehen, wenn ich sie dabei sehe – nämlich mich. Muss man verstehen.

Ich wuchs wenige Meter von dem Schild entfernt auf, das Salzburg durchstreicht, um Salzburg beginnen zu lassen und wenn wir früher die Milch noch kuheuterfrisch vom Bauernhof geholt hatten, waren wir stadteinwärts gefahren. Es ist der äußerste Stadtrand, mehr Land als Stadt. Das Ungewöhnliche gehört hier nicht zur Gewohnheit.
Hatte ich aber früher offenbar gelernt, dieses Schauen der Leute zu ignorieren, ist es mir heute beinahe gleichgültig. Ich kann es beinahe genießen, bin offenbar doch noch ein Großstädter geworden. Beinahe nur, denn es beschäftigt mich doch. Vielleicht gefiel ich jener Frau so gut?

In Wien fällt es mir auch leichter, mich vor der Schönheit zu verbergen, während hier, in Salzburg, zudem die Erinnerungen lauern, wie… Kater, der auf der Fußmatte unserer Nachbarn den Tag verdöst, von dem sollte ich Gelassenheit lernen. Feist und ruhig harrt er dem Kommenden und ist es ihm dann zu nahe, gibt’s eine Tatzenwatsche – manches Mal, dann wieder nicht. Er kann wählen, er kann sich auch verbergen.
In Wien sind die Erinnerungen wie Hunde. Ich lernte manches über Hunde schon in Salzburg, instinktiv so manches Körperwort; in Wien aber lernte ich ihre Sprache, mit ihnen umherzugehen, keine Bange mehr zu haben, vor ihrem Temperament. Ihre laute, lustige Wildheit ist berechenbarer und vertrauenswürdiger, als das Geschleiche der Katzen. In Wien erinnern manche Hunde an Katzen, aber in Salzburg waren selbst die Wege, um Kanal und Wald, frei von ihrer Scheiße. In Wien lernen die BewohnerInnen, beim Gehen nicht den Asphalt zu verfehlen.

Erinnerungen, melancholisch und unberechenbar wie alte Kater hier, dort wie junge Hunde, bleiben mir aber, dort wie da, oft unnahbar, uneinsichtlich, rätselhaft wie das Tierische an sich, das zugleich ein entfernt vertrauter Teil von mir ist.
Ich begann zu knurren und die Zähne zu fletschen, als es mir ein wenig besser ging. Ich knurrte gegen diese Lebenszeit, die mich erkältet durch die Frühlingssonne schleichen ließ, besann mich aber der SchauerInnen, hatte ich auch eine gewisse Lust, der sonderbare Rückkehrer jenes Dorfes zu sein, das keines ist. Ich könnte ein guter Sonderling, ein komischer Onkel sein, der wieder bei seinen Eltern einzieht und von dem man munkelt, er sei ein gescheiteter Schriftsteller, er sei ein wenig verrückt und würde nachts im Wald umherlaufen, um den Mond anzuheulen. Ich wäre sogar so frei, diese Gerüchte war werden zu lassen.

Die Siedlung, in meiner Kindheit voller Lärm und Leben, begann stiller zu werden, während ich von hier aus volljährig und dann über Zwanzig wurde. Auf der Pfarrwiese, an der Bundesstraße, wo wir früher Fußball gespielt hatten und um das Sonnwendfeuer getobt waren, lief lange kein Kind mehr, später nicht einmal mehr die Hühner meines Pfarrers. Als sie die modernen Glaskäfige gebaut hatten, war ich dennoch, architektonisch zwangsläufig enttäuscht, sah aber mittlerweile das neue Leben dort.
Es sprießt zwar nicht mehr, wie in den Achtzigern, als inmitten der futuristischen Wohnanlage Siedlungsfeste, der unterschiedlichen Häuser und Parteien, gemeinsam veranstaltet wurden – in den vielen Wohnungen leben nun PensionistInnen, die gelegentlich ihre Enkelkinder aufnehmen – aber die einzelnen, jungen Familien dämpfen den leisen Lärm, den so eine SeniorInnensiedlung verursacht.
Zwar wohnte ich hier in meiner Jugend, doch scheint es mir, dass ich meine Zeit hier nicht verbrachte. Wo war ich bloß gewesen? Hatte ich mich versteckt – vor blöden Blicken etwa?*

In meinem Computer, in seinen Spielereien, im Alkohol, in der sehnsüchtigen, unerfüllten und unerfüllbaren Verliebtheit, durch die immer noch die Bilder auftauchen, regenträchtiger, dunkeldeckender Wolken, über einer flachen, dämmernden Landschaft von moorigen Feldern und Wäldchen, durch die sich Galaxienarme von Einzelhäusern winden. So wie das Konglomeratsgestein sich in meiner Erinnerung erbaut, sobald ich an die Architektur, die nächst größere Urbanität, die Innereien der Touristenstadt Salzburg denke, wie es verarbeitet wurde, in vielen dieser Häuser, die mir als Kind so vertraut geheimnisvoll wirkten, wenn sporadische Erledigungen und Besuche der Märkte, mich meiner Mutter dorthin folgen ließen. Erst im Erwachsenerwerden war mir die Dichte und Stärke dieses Materials vollends bewusst geworden, wenigstens bilde ich mir das ein. Es gehört, neben Moorwiesen, Katzengold, kalkweißem Stahlbeton, alten Bäumen – vor allem Kopfweiden, Efeu, Wildem Wein oder was da sonst noch wächst und dem Blau der Berge selbst, der mächtigen Präsenz des Untersberges, zu den Hauptbestandteilen meines Salzburgs.

Unweigerlich folgt ihm die Erinnerung ans „Haus der Natur“, einem magischen Ort, nicht nur meiner Kindheit, einem naturhistorischen Museum, mystischem Labyrinth, einer Varietäten- und Abnormitätensammlung, und katakombenhafte Stätte der Wissenschaft. Eine herrliche Einrichtung, gut für jeden Regentag. Ich verkroch mich einst dort, die spätere Schule schwänzend, um zu sinnieren, über den jugendlichen Wahnsinn, der mich befallen hatte – ausgebrochen durch die Liebe, aus dem seelischen, herzlichen und intellektuellen Denken aber heraus und dieses verrückend und erweiternd, für mein zukünftiges Leben. Mehr kann, will und muss ich nun nicht mehr darüber schreiben. Bis bald.

*An dieser Stelle sollte ein Fragezeichen-Beistrich stehen, den ich (offenbar) erfand, dessen grafische Wiedergabe ich jedoch noch nicht ermöglichen konnte.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Schreib dich aus