Sonntag, 28. November 2010

Zur Zeit der Verklärung

Ironische Welt: Die Abfallprodukte der kurzen Epoche der Aufklärung, die wir, nicht im Einzelnen, aber in der Masse, hinter uns zu lassen scheinen, sind Techniken der Verklärung, durch die sich die heutige, so genannte Medienlandschaft größtenteils formt; so wie der Sophismus, in seiner und nach einiger Zeit, jene Redekünstler hervorbringen sollte, gegen die Sokrates seine Dialoge – allen voran im ‚Gorgias’ – führte. Allen voran ist auch die Werbung, wenn es um die Nützung jener verklärenden Techniken geht und Politiker/innen greifen auf die Techniken aus Marketing und Werbebranche zurück.

Unser neuer Epochenabschnitt scheint einer erneuten Epoche der Verklärung anzugehören, wie lange Epoche oder ihr Abschnitt auch andauernd werden, die Masse der Medien hilft dabei, die Massenmedien insbesondere. Vor den Türen unserer Wohnhäuser türmt sich buntes, bedrucktes Papier, das ein geringer Prozentteil der Adressaten zu einem geringen Prozentteil liest. Aber die Firmen, die uns auf diese Weise, im Namen der Reklame, stetig mit Altpapier beliefern – mit nicht-recyceltem, gefärbtem Hochglanzpapier – müssen keine Gebühren dafür bezahlen. Es würde aber auch nichts nützen. Man kann so viele CO2-Emissionsgebühren einfordern, wie man will, dem CO2 ist das Geld egal; irgendjemand kassiert, ein anderer reduziert, aber die Luft ist dennoch raus, aus dem Klimaschutz. Wie kommen intelligente Menschen auf die Idee, dass es genüge, den (künstlichen) Klimawandel zu besteuern, um die, durch dessen Folgeschäden notwendigen Reparaturen, vielleicht finanzieren zu können?

Genügen würde es, die Emitter des (künstlichen) Klimawandels abzustellen. Ein einmal zerstörtes Klimasystem oder ein anderes natürliches System, das wir zerstören, wiewohl unsere Existenz von manchen dieser Systeme abhängt, lässt sich nur in wenigen Fällen durch Geld retten – selten aber wirklich retten; meist bleibt lediglich der teure und aufwendige Versuch, es zu rekonstruieren oder adäquat zu ersetzten. Die Wissenschaftler/innen erzählen uns das seit Jahrzehnten, aber auf dem Weg, von der Veröffentlichung wissenschaftlicher Erkenntnisse bis zur Veröffentlichung in den Massenmedien, geht meist wichtiger Inhalt verloren. Deshalb können Demagogen wie T. Sarrazin auch auf Begriffsreste, der oft falsch verstandenen Genetik, zurückgreifen, ohne dass dies die Verkaufszahlen seines seltsamen Buches einschränken würde. Viele Bürger/innen – oder wenigstens ihre Medienmacher – glauben, dass sich mit fragmentarischer Laien-Genetik, beinahe der ganze Mensch erklären lässt. Damit zeigen gewisse Massen des Volkes oder der Medien, dass sie kein höheres intellektuelles Niveau und keine höhere Bildung – im Tiefensinn – besitzen, als die kriegsversehrte Masse, der europäischen Zwischenweltkriegszeit des letzten Jahrhunderts.

Jene Idee, man könne sich von den Folgen eines sich drastisch verändernden, globalen Klimasystems mit Geld freikaufen, muss einem unglaublichen Wahnsinn entspringen, den die Menschheit, in den letzten hundert Jahren schon öfter bewies. Man kann sich auch keinen zweiten Planeten kaufen, um diesen dann zu besiedeln, wenn der erste unbewohnbar werden würde. Der Wahnsinn scheint mit den Dynamiken der Verklärung zusammen zu hängen.
Man wüsste dies und jenes besser, aber an Diesem und Jenem hängen bereits duzende bis tausende Argumente und Scheinargumente, duzender bis tausender Interessensgruppen, mit duzenden bis tausenden Medienelementen, mit duzenden Begriffen und Definitionen für Dieses und Jenes, sodass man über Dieses und Jenes wissen kann, was man will – es hilft nichts. Unsere Welt ist so komplex, dass wir die einfachsten ihrer Dinge nicht mehr zustande bringen oder begreifen können, ohne dass eine andere Meinung unser Weltbild zweifelhaft werden lässt. Ignoranz ist da auch keine Abhilfe, denn wenn wir uns ihr zuwenden, ist die Welt mit einem Male wieder so einfach, dass ihre Komplexität uns völlig entgeht. Je nach dem, es gibt immer gute Ausreden aufzugeben und wie auch immer die Welt tatsächlich sein mag, sie ist auf alle Fälle voller Binsenweisen.
(Merke: Mit der Behauptung, ein Problem sei zu kompliziert, um eine einfache Lösung dafür finden zu können, legt den Verdacht nahe, dass es auch zu kompliziert sei, um festzustellen, ob eine einfache Lösung möglich wäre oder nicht. Man kann also, gerade bei einem besonders komplexen Thema, schwer einwandfrei aussagen, dass es keine einfache Lösung gebe.)

Aber neben jenen Dynamiken, denen ich offenbar selbst nicht ganz folgen kann, scheint es sich mit unserer Welt ganz gegensätzlich zu verhalten, als uns ihre Spiegelbilder der Fantasie, in Sagen, Märchen, Büchern und Filmen aufzeigen wollen: In den Zeiten des Niederganges tauchen keine Helden zur Rettung auf, sondern die Nutznießer der Zerstörung, die Scharlatane und Aufwiegler in eigener Sache, kriechen aus den Löchern ihrer Irrungen.
In den niedergehenden USA fürchtet man sich immer noch vor der Spukgestalt des Sozialismus, ohne zu wissen, was das eigentlich sei. Aber es zeigt sich auch in Europa, dass nicht sehr viele Kommunismus, Sozialdemokratie, Stalinismus und Marxismus von einander zu unterscheiden vermögen – nicht einmal jene mit Vermögen? Wohl kaum: Man muss offenbar zwischen angelernter und vorsätzlicher Blödheit unterscheiden. Zwischen den vorsätzlichen Verklärer/innen und jenen an den Marionettenschnüren ihres Einflusses. Retten, was noch zu retten ist und zwar für uns – das ist das Motto. Dass in dieser Panik niemand auf die Idee kommt, für einen Augenblick den Strom abzuschalten, ehe man sich an seinen Kreisläufe operiert, bestätigt mir eine lang gehegte Ahnung: Die Eliten wissen auch nicht, was sie tun.

So kommen wir beispielsweise dazu, dass wir auf den Fortschritt der westlichen Demokratien verweisen, obwohl er uns in seinem Zuge zugleich abhanden kam. Wir kritisieren die Kolchosen in der ehemaligen Sowjetunion und ihre Ableger im kulturrevoltierenden China, die so vielen Millionen Menschen den Hungertod brachten; aber wir bauen im Namen von Weltbank, Weltmarkt und dem weltweiten Schuldenerlass für die ehemaligen Entwicklungs- und nunmehrigen Zinsknechtschaftsländer, riesige Monokulturen in Afrika. Wir nennen diese nicht Kolchosen, aber auch sie zerstören Arbeit, Ernährungsgrundlagen für die Bevölkerung und deren ökologische Umwelt. Großartige Marktwirtschaft – zumindest von ‚groß’ und ‚artifiziell’ abgeleitet.

Man normierte die Funktionalität der Supermärkte, aber in diesen Tagen, braucht man für seinen Einkauf nirgendwo länger, als im Supermarkt – vor allem im Einkaufscenter. Eine Bar beispielsweise ist meist ausreichend sauber, auch wenn nicht zeitgleich mit dem Kundenstrom geputzt wird, obwohl Bars ein weit altmodischeres Konzept sind, als Supermärkte. Die durch Immigrant/innen – aus angeblich rückständigeren Gebieten des Planeten – revitalisierten „Kreisler“ und Kleinläden, beweisen jedenfalls wieder gefundene Funktionalität. Während persönliche Betreuung in Supermärkte dem Mangel an Zeit und Ahnung erliegt, weiß man beim türkischstämmigen Kreisler meist, was man verkauft. Da gäbe es also einiges zu überdenken, denn ohne das, findet auch der natürliche Kreislauf von Werden und Vergehen, innerhalb von Kultur, Gesellschaft und Zivilisation nicht unbedingt den richtigen Weg (um nicht „rechten“ zu schreiben).

Man muss nicht alles dem Zufall überlassen. Aber sollte nichts der Verklärung hinterlassen. Da gibt es eine neue Familienstaatssekretärin in Österreich, die dieselben leeren Sprechblasen in eines ihrer ersten Interviews bläst, wie andere Politiker/innen vor, unter, über ihr. Der abgeglichene, angepasste Gedankenvorsatz der Partei - Widersprüche inklusive - bald kindisch eingeschnappt in die lächerliche Opferrolle geschlüpft, mit Absicht, um der Frage nach dem Warum zu entgehen; vermeintlich taktisch clever, aber in Wahrheit entlarvend: Durch den Nebel heißer Luft scheint doch, sie ist, was sie nun auszusprechen vermeiden will, obwohl sie es mit verordnetem Stolz trägt, weil werbewirksam.

Aber Sprechblasen sind außerhalb des Comics saloonfähig geworden, selbst in den Saloons der Paläste. Die Politik läuft auf Marketing, die Ersatzdroge ist der Schwachsinn und selbst die Märkte, an denen Glück und Wehe ganzer Staaten hängen, leben vom Glauben. Die Informationen werden mehr, das Wissen zerstreut, das Denken hetzt hinterher und die Aufklärung hängt wie eine Energiesparlampe über dem Dunkel ihres eigenen Schattens, den sie weit und breit vor sich hinwarf. In ihm gediehen und gedeihen noch, die Verklärer/innen unserer Zeit.

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