Dienstag, 8. April 2008

Aus der Mitte entspringt der Fluss (I)

Die Kälte staubt von Wänden aus Beton, Stahl und Glas. Ich sitze in der S-Bahn nach hause, reise in nächtlich eiligem Tempo über einen kargen Planeten. Architekten sind in diesem Augenblicke eine Berufsgruppe, deren Schaffen ich große Schmerzen in meiner Brust zuschreiben muss. Und da liegt auf dem Boden, dessen Inhalt heut morgens im Radio bereits thematisiert wurde, als ich gerade die ersten Schlucke Kaffees einsaugte: Protest gegen den EU-Reformvertrag, welchen das österreichische Parlament, nach alter Sitte, über die Wahlberechtigten hinweg, unterzeichenen wird – „Groß Demo“ heißt es auf dem Flugblatt, zu solcher ruft man auf. Und „man“ sind in diesem Fall eine überparteiliche Initiative, in deren Fersen sich allerdings durchaus politische Parteien verbeißen.

Man verstehe mein Dilemma: Eben noch, wieder einmal, von unhöflichem Schweigen eines Tankstellen-Angestellten daran erinnert, dass man mir meine Andersartigkeit am Gesicht ansieht und am Faktum, dass ich höflichen Respekt vorm nächsten Menschen zu artikulieren gelernt habe, wie an einem rot auf meiner Stirn glühenden Stigmata, ablesen kann, dessen Symbolik bedeutet: Das ist ein Weichling – der hat Manieren und ist augenscheinlich trotzdem kein „Jemand“.

Ich gehe also ein wenig beleidigt die letzten Meter nach hause, müde von einem langen Tag mit wenig Schlaf, und werde am Eingang, an der WG-Pinnwand, von der Aufforderung an der Demo und Mahnwache gegen das EU-Referendum teilzunehmen eingeholt. Infoblätter, die in knappen Textzeilen erläutern sollen, warum der EU-Vertrag schädlich sei. Man fordert eine „Volxsabstimmung“ – deren Teilnehmer Hubsi Kramer die EU als faschistoid bezeichnet haben soll.

Ich kann durchaus verstehen, wenn BürgerInnen protestieren, weil bei wichtigen politischen Entscheidungen niemals ihre Meinung eingeholt wird. Dieses Demokratie-Manko ist jedoch sicherlich nicht der Grund für den Protestaufruf, denn die Menschen werden von der Politik seit Anbeginn der zweiten Republik an der parlamentarisch kurzen Leine gehalten und kein/e Gockel/Gockelin krähte bisher laut genug, wenn österreichische Großparteien eine Legislaturperiode nach der anderen machen was sie wollen, auf Wahlversprechen vergessen, Ideale und Werte über Bord werfen, die sie bei Ankerlichtung noch zu besitzen meinten und mit jeder/jedem Schlampe/Schlamper ins Bett springen, um die große Show am laufen zu halten, um bei der nächsten Wahl wieder gewählt zu werden. Die typischen ÖsterreicherInnen haben kein Interesse und daher auch keinen Plan von der Politik, solange es sich nicht um etwas handelt, über das man sich per Kronen Zeitung, Heute, Österreich oder News aufregen kann und solange es genug Bier gibt, um die ewig jammernde Stimme zu ölen – Gejammert wird viel, gehandelt wenig, schlechte Zeiten werden durchtaucht.

Doch seit der letzten Protestaktion einer überparteilichen Initiative, gegen den Ausbau eines islamischen Kulturzentrums, dessen bestehender Teil angeblich bereits zu laut war, ist es zum hiesigen Trend geworden, alle auffindbaren Kräfte zu sammeln, um die eigenen Ziele durchzusetzen. Ausnahme in einer Masse aus Gegröle ist wohl Attac. Mit sachlicher Frische wünschen sie sich zu distanzieren, von Krone und rechtem Rand. Immer gut, jedoch warum?
Wenn so viele Gruppierungen der selben Meinung sind – trotz unterschiedlicher Meinungsbildung, sehr verschiedener Argumentationsweise und Beweisführung, trotz Detail-Differenzen – sollte dies doch alle Parteien freuen, die auf diese Weise mehr Gewicht haben, wenn es um die Forderung nach einer Volksabstimmung, und zwar gegen den EU-Vertrag bzw. die EU als solche geht. Aber dieser Brei aus unterschiedlichen Forderern passt nicht ins Öffentlichkeitskonzept seiner einzelnen Bestandteile. Man will einen Sieg gegen die EU als jeweiligen Erfolg der eigenen Gruppierung verbuchen können, den man jeweils nicht mit Linken, Rechten, Gentechnik-Gegnern, Radikalen, Gemäßigten oder Kronen/Heute-Zeitungslesern teilen möchte. Das entlarvt die Sache zum Teil als gewollte Nutznießerei, die man tunlichst als solche verdeckt halten will, da es sich um eine Polit-Show handelt, die weitergehen muss, und nicht um Inhalte – diese traue ich in erster Linie den Leuten von Attac zu, die vermutlich als einige von wenigen Gegnern den Vertragsentwurf studiert und sachlich analysiert haben.

Einstein (ich lese gerade ein diesbezügliches Buch), als Zeitzeuge beider Weltkriege, als einer der wenigen echten Linken, als kluger Pazifist, hatte von einem Model, dass der NATO nahe kommt, geträumt und noch viel mehr hätte er sich wohl jene Errungenschaft herbeigesehnt, deren Luxus wir genießen können – eine europäische Gemeinschaft, keine Grenzen, Niederlassungsrecht, Solidarität – für EU-Bürger innerhalb der EU. Auch wenn ihre Funktionsweise nicht immer perfekt läuft, ist mir eine verbesserungswürdige und vor allem verbesserbare EU weitaus lieber, als die Abhängigkeit von einem einzigen Nationalstaat, ist mir lieber, als keine EU und ein EU-Reformvertrag, der konsensorientiert, wie er ist, nicht alle Wünsche von Attac und anderen Gruppierungen vollends entsprechen kann, ist mir lieber, als überhaupt kein Reformvertrag. Über weitere Reformen kann man verhandeln, solange man in der EU bleibt, sie am laufen hält und nicht über die Schwierigkeiten mit einem Wagen meckert, dessen Motor man selbst ständig zum Absterben bringt.

Anstatt zu versuchen sich von anderen Gruppen zu distanzieren, deren Ziele man durchaus teilt, sollten die einen oder anderen, denen dies zu zutrauen ist, sich fragen, warum denn alle eben diesem Wirken gegen die EU und ihrem Reformvertrag nachhetzen, ob es nicht doch Gemeinsamkeiten zwischen den Interessensgruppen der „Kronen Zeitung“ und Linksradikalen gibt – vor allem, was die Reflektion des EU-Reformvertrages betrifft. Wie viele kennen seine Inhalte? Wie viele verstehen sie?

Mein Dilemma zeichnet sich noch deutlicher ab, wenn man die eben skizzierte Grundierung kennt: Es gibt Menschen die mich für einen Linken halten und vermutlich trifft dies in einem gemäßigten Grade auch zu. Hier bin ich ziemlich alleine, also kann ich ruhig schreiben, dass ich meist die Grünen wähle und meine Tageszeitung einen beinahe rosafarbenen Anstrich hat.
Dennoch bin ich zuweilen und in bestimmten Belangen sehr bürgerlich, verstehe nur meist etwas anderes unter solcherlei Begriffen (konservative Politik sollte erhaltend wirken – und zwar nicht auf die lukrativen Machtpositionen geschniegelter Egoisten).
Also finde ich mich alsbald in der Mitte eingekesselt wieder. Linke schreien Selbiges wie Rechte und alle schreien es gegeneinander und dennoch gemeinsam – ich fühle mich umzingelt hier, von einem Meer aus Radikalismen. Und das nach einem langen, ermüdenden Tag, an welchem die Stadt kaum einen schönen Blick, mir auf sich, vergönnt hatte.

Ich bin im Grunde für die Methode einer Volksabstimmung, bei wichtigen politischen Entscheidungen, sehe aber doch, dass es bedenklich wäre, ein Volk über eine Sache abstimmen zu lassen, über die es sich per billigem Massen- und Flugblatt informiert hat, obwohls hochkomplexe Materie betrifft. Wofür wählt man eigentlich angebliche Experten in eine Regierung? Wenn es um deren Scheitern geht regt sich die Masse nicht, hält ihr die Treue und allen Stellen entnimmt man, dass man doch nichts machen könne. Andererseits regt sich die Masse sehr wohl, furchtbar auf, wenn die Regierung zur Abwechslung ihre Arbeit macht und einen EU-Reformvertrag ratifizieren will. Sollte dieser Nichts oder Schlechtes bringen, kann man immer noch auf die Barrikaden steigen, auch wenn es dann Mut erfordert, weil es nicht gegen nahe Muslime oder das ferne Brüssel geht – dann nähmlich, wenn es gegen real greifbare Probleme ginge, das kann ich prophezeien, würde man - zumindest in meiner Heimat - die Protestparolen im Wirtshaus allein hören können.

Und auch wenn es meine wirklich sehr gemochte, liebenswürdige Mitbewohnerin nicht lesen will (ich habe mich mittlerweile daran gewöhnt, dass die liebsten Freunde oftmals gar nicht meiner Meinung sind): Lasst unsere Gewählten einen Reformvertrag (wir haben keinen anderen) wagen - und uns für vielversprechendere Anliegen einsetzten. Aber soll demonstrieren gehen wer möchte - um 5 vor Zwölf gegen etwas, aus politischer, rechtlicher Sicht, Unabänderbares. Ich möcht nur auf folgendes noch hinweisen: Die Tibet-Unterstützer sind rar am Stephansplatz.

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